„In Tagen scheinbar neu auflodernder Jugendbegeisterung war es ein Zeichen von dem Greisenalter einer in der Annäherung des Todes wieder kindisch gewordenen Zeit, die sich an Abgestorbenem erlabte und darin ihr Gefühl, ihre Gegenwart zu haben, auch anderen hat zumuten können.“ (Hegel, Ästhetik III, S. 347.)
Die Basisgruppe Antifa Bremen hat am 5.7.2024 einen Text zur autoritären Linken veröffentlicht. Vorneweg: Ich finde diese Intervention richtig und wichtig. Dennoch bin ich der Meinung, dass der Text, den die Gruppe präsentiert, ein paar offene Flanken hat. Darum (und weil die Gruppe explizit um Stellungnahmen gebeten hat) versuche ich mich an einer Antwort. Diese soll nicht als ablehnende Kritik verstanden sein, sondern ist als ein solidarisches Diskussionsangebot gedacht. Dabei will ich mich nicht in Details verlieren, sondern vier meiner Meinung nach zentrale Fragen aufgreifen, die weiterentwickelt werden könnten: Was heißt autoritär? Was heißt antiautoritär? Wieso gibt es diese autoritären Begehrlichkeiten auch von links? Und, ganz leninistisch: Was tun?
1) Was meint ‚autoritär‘?
Die Autor:innen der Basisgruppe Antifa definieren autoritär und anti-autoritär als gesellschaftliche Kategorien. Sie schreiben: „‘Autoritär‘ meint (…) die einseitige Auflösung der gesellschaftlichen Totalität in Richtung des Zusammenhangs.“ Im Folgenden führen sie dann aus, dass dies die Unterwerfung des Individuums unter einen kollektivistischen, bzw. staatlichen Apparat meint.
Und natürlich, hören wir das Wort ‚Autoritarismus‘ sehen wir beinahe automatisch die Bilder von orwell’schen Staatsmaschinen vor unserem inneren Auge, lange Reihen trist Uniformierter, die vor einer Führerfigur marschieren- ‘autoritär’, das ist die „Furcht vor der Freiheit“ (so Erich Fromms erstes Buch zu dem Thema), die Abneigung gegen Gefühle, Individualismus, Anderssein, usw.
Diese Vorstellung speist sich aus Überlegungen der Kritischen Theorie: Seit den 1930er Jahren befassen sich deren Theoretiker:innen, zum Beispiel Theodor Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin oder, zu diesem Zeitpunkt noch, Erich Fromm, mit der Entstehung des Faschismus in Deutschland. Wie konnten sich die Nazis durchsetzen? Die Antworten, die sie darauf fanden, waren durchaus verschieden, und können auf beengtem Raum hier nicht dargestellt werden. Ein Lösungsvorschlag, der viel Einfluss gewonnen hat, lag aber in der Verortung des Erfolgs des rechten Autoritarismus in einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur – Adorno sprach von der „authoritarian personality“.
Das muss ausgeführt werden: Anders als ‚orthodoxe‘ (lies: deterministische) Marxist:innen geht die Kritische Theorie davon aus, dass sich die äußeren Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft in inner-psychischen Strukturen der Menschen realisieren. Nur ein Verständnis dieses Zusammenhangs erlaubt es demnach die kapitalistische Gesellschaft zu verstehen – und abzuschaffen. Was heißt das aber für das Verständnis des Autoritarismus? Dieser ist eine Reaktion auf die Erfahrung der kapitalistischen Gesellschaft: In dieser erfährt das Individuum Formen der Entfremdung, es kann in Schule, Arbeit, Uni nicht sich frei verhalten, sondern wird von übergeordneten Instanzen kontrolliert. Diese Kontrolle (bzw.: dieser Kontrollverlust) wird als Unlust erlebt (was nicht gleichzusetzen ist mit einem bewussten Wahrnehmen – was hier geschieht, vollzieht sich unbewusst). Die Unlust ist aber für viele eine doppelte: Die einfachste Reaktion auf sie, bestünde nämlich darin, die Verhältnisse, die die eigene Freiheit beschränken, abzuschaffen. Emanzipation also, zum Beispiel durch eine soziale Revolution. Aber, dieser Weg ist für den autoritären Charakter unmöglich und damit mit Schmerz – Unlust- verbunden. Der Grund dafür kann zum Beispiel darin liegen, dass die Befreiung als unmöglich angenommen wird, oder, dass der autoritäre Charakter persönlich von der Situation profitiert (zum Beispiel ist sein Träger ein weißer Mann aus vermögenderen Schichten, der bei einer egalitären Befreiung Privilegien verlieren wird). Auf diese doppelte Erfahrung der Unlust reagiert der autoritäre Charakter mit einer Verschiebung: Er identifiziert sich mit der/einer angreifenden Macht, mit der Einschränkung der Freiheit, und verschafft sich eine sekundäre Lustbefriedigung, indem er eine Opfergruppe auswählt, zum Träger des Bösen und darum Empfänger seiner Gewalt erklärt. Der Antisemitismus ist darum dem autoritären Charakter immer immanent, da nur durch die Vernichtung des Feindes, die Lustbefriedigung, die zur Stabilisierung der eigenen Persönlichkeit notwendig ist, hergestellt werden kann (deswegen war, wie Postone schreibt, der Holocaust nicht Effekt, sondern immer schon Bedingung des NS).
Was hat das nun mit autoritären Linken zu tun?
Auf den ersten Blick scheint sich, geht man von dieser Überlegung aus, die Ausgangsthese der Basisgruppe Antifa ja zu bestätigen: Autoritäre Linke, überfordert mit der kapitalistischen Entfremdung, identifizieren sich mit einer Führerfigur, zu, Beispiel Stalin, und fordern die Vernichtung des Feindes, zum Beispiel kosmopolitische Kapitalist:innen oder, immer gerne genommen, Zionist:innen, die als lustvoll erlebt wird. Dabei negieren sie die Freiheit, das Ich, das Individuum und fordern dessen Unterwerfung unter das Kollektiv, sei es Klasse, Partei, oder (gerade sehr im Kommen), das Volk.
Und wären wir im Jahr 1929, so wäre dem auch nichts mehr hinzuzufügen. Doch in unserer Gegenwart erscheint mir diese Diagnose verkürzt.
Gehen wir dazu nochmal zur Kritischen Theorie zurück: Die erste Generation der Kritischen Theorie setzte sich insbesondere mit der verwalteten Industriegesellschaft auseinander, eine Phase kapitalistischer Entwicklung, die wir heute manchmal als Fordismus bezeichnen. In dieser agierten Staat, Schule, Fabrik als Maschinen, die Menschen normten – es entstanden standardisierte Massengesellschaften‘ (übrigens in Ost und West), in denen insbesondere Adorno und Marcuse die Auslöschung jeder Individualität verwirklicht sahen. Der historische Faschismus erschien auf diese Situation nur die logische Konsequenz, und, so mögen wir hinzufügen, der Stalinismus ebenso: Die entfremdeten, autoritären Subjekte überidentifizieren sich mit dem, was sie entfremdet, der Massengesellschaft, die ihrer Individualität beraubten Arbeiter:innen schreien, als „dichte Masse“ (Benjamin) begeistert Heil – oder wenden sich nach Moskau. Allerdings bemerkt Erich Fromm schon in dieser Zeit, dass nicht alle Wege des Autoritarismus in Richtung der namenlose Masse verlaufen. Er beschreibt, dass, am Rande, das Phänomen eines individualistischen Autoritarismus entsteht, ein Autoritarismus, bei dem an die Stelle der Führerfigur das eigene Ich getreten ist.
Genau diese Form des Autoritarismus ist heute die vorherrschende.
In meiner Untersuchung „Die Freiheit, die sie meinen“, zeige ich dies anhand der Coronaproteste, in „Gekränkte Freiheit“, verfolgen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger die Entstehung dieser Formation im Detail über die letzten 50 Jahre nach. Die Diagnose ist dabei dieselbe: Eine neue gesellschaftliche Formation, die im Wesentlichen antiautoritär (dazu in Punkt 2) ist, setzt sich nach 1968 durch. Damit einher geht ein radikalindividualistischer Freiheitsbegriff, der ins Autoritäre führt, wie spätestens die Pandemie zeigte. Hier demonstrierten klar antisemitisch gesinnte Menschen gegen die Beschränkungen des Staates. Sie wollen Freiheit für sich, Freiheit, ihre Individualität auszuleben (z.B. in Clubs zu gehen, nicht gezwungen sein, Masken zu tragen, zu reisen, usw.) und richten sich dabei klar gegen das Kollektiv, bzw. jede Idee von Kollektivismus. Sind sie also antiautoritär? Keineswegs! Sie nehmen willentlich in Kauf, ja befürworten, dass Menschen, zum Beispiel Angehörige der Risikogruppen, für ihre Freiheit leiden. Sie haben antisemitische Feindbilder, fordern Gewalt gegen Schwache, die innere Struktur ihrer Ideologien und aussagen ist autoritär – nur eben zugleich individualistisch. An die Stelle der Führerfigur und des Kollektivs trat die Absolutheit ihrer Individualität und Freiheit.
Und dies führt uns zu den autoritär-linken Gruppierungen.
Der Form nach – und ich denke hieran hat sich die Basisgruppe Antifa festgebissen – kehren hier vergangene Formationen der autoritären Linken wieder. Bei manchen sind die alten Männer, die Klassiker, wieder hoch im Kurs, andere, wie die BSW, wünschen sich halt biedere 70er-Jahre Sozialromantik. Indes, ein genauerer Blick verrät uns etwas anderes. Bleiben wir dazu kurz beim BSW: Hier ist auffallend, wie sehr Sarah Wagenknecht die Motive bedient, die zum Beispiel die individualistischen Autoritären von Querdenken umtrieben: Sie wehrt sich gegen ‚woke Meinungsdiktatur‘, fordert die Freiheit für Autofahrer:innen, die Freiheit zum Verzehr von Currywurst, usw. Ständig also ist in ihren Reden und Wortmeldungen die Freiheit durch eine kollektive Instanz, die es abzuwehren gelte, bedroht – ganz klar die ideologische und narrative Struktur, die der autoritäre Individualismus ununterbrochen betont. Es geht hier nicht um völkische Prinzipien, um die Abschaffung des Individuums zugunsten eines Kollektivs, sondern um die vermeintliche Verteidigung eines radikal-individualistischen Prinzips, der absolutierten Freiheit, mit sozialdarwinistischen, chauvinistischen, standortnationatilistischen und damit autoritären Mitteln. BSW ist nur eine Flanke des „libertären Autoritarismus“ (Nachtwey, Amlinger), der sich in Deutschland in parlamentarischer Form (AfD, Teile der CDU/CSU, FW, FDP) und außerparlamentarischer Form konstituiert.
Und die ‚K-Grüppchen‘?
Mehr als Wagenknecht wahren diese den Schein traditions-linken Kollektivismus. Doch jenseits ihrer vollmundigen Pamphlete, ist ihre Praxis, sind wir ehrlich, eine andere: Wir haben es hier nicht mit den alten Kaderparteien zu tun, die ja durchaus Massen mobilisieren konnten, sondern mit Grüppchen von wenigen (idR 10-50) Mitgliedern. Diese haben, von winzigen Ausnahmen abgesehen, nirgendwo gesellschaftlichen Einfluss, sie sind, schon aufgrund ihres Erscheinungsbildes, ihrer Sprache, ihrer Aktionsformen abgesondert. Dass sie Erfolg haben, ist ausgeschlossen. Aus diesem Grund muss man derartige Vereinigungen weniger als ernsthafte politische Formationen begreifen, denn als subkulturelle Angebote, die es den Mitgliedern ermöglichen, durch distinkte, identitäre Praktiken sich in ihrer Individualität selbst zu bestätigen. Wer zum Beispiel der „KO“ beitritt, weiß nicht nur, dass sie:er Recht hat, sondern kann dieses Recht haben durch die Auseinandersetzung mit anderen linken Gruppen, lange Texte, bestimmte Formen des Auftretens, usw. rituell ausleben. Durch den Vektor der Gruppe können sich die autoritären Linken so als überlegen erfahren, ihr Ich über die Realität stellen (und vollziehen in der Tat oft den epistemischen Bruch mit der Realität, was sich wiederum in der Sprache niederschlägt). Zwar spielt so das radikal-individualistische Freiheitsprinzip, das BSW umtreibt (und darum erfolgreicher macht) keine Rolle, wohl aber ermöglicht es auch hier die Zugehörigkeit zur autoritären Linken, das Ich absolut zu setzen.
Der Autoritarismus, um den es hier geht, besteht darum, meiner Meinung nach, nicht, wie die Basisgruppe Antifa es beschreibt, in der Unterordnung des Individuums unters Kollektiv. Sondern, ganz im Gegenteil, im Kern jenes Autoritarismus von links ist, in anderer Form ausgedrückt, derselbe libertäre, individualistische Autoritarismus am Werk, der weltweit die Kontrolle übernimmt. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass nicht nur an Randbereichen, die Grenzen zwischen diesen Formationen verwischen, da sie streng genommen keine Grenzen sind: Der MAGA-Kommunismus in den USA, Left Brexit im UK, Wagenknechts Impfskepsis, die Freie Linke, Giorgio Agamben, usw. sprechen hier eine deutliche Sprache.
2) Anti-autoritär ist, was ist
Mein zweiter Widerspruch zur Basisgruppe Antifa besteht in der Behandlung von Antiautoritarismus. Bzw: Im unkritischen Verhältnis zu diesem.
Dazu muss ich vorwegschieben. Die Basisgruppe Antifa identifiziert sich keineswegs mit den Antiautoritären. Im Gegenteil. Recht weit oben im Text heißt es: „Eigentlich stehen wir (die Basisgruppe Antifa, Anm. S.Sch.), versuchen wir, damit „in der Mitte“ zwischen diesen beiden Polen zu stehen. Wir sind eigentlich keine antiautoritären Linken.“
Eigentlich eine gute Position, die auch ich teile.
Aber, im Folgenden findet, meiner Meinung nach, eine nicht vollständige Auseinandersetzung mit der antiautoritären Linken statt. Deren Geschichte wird weitestgehend als Geschichte der Erfolglosigkeit erzählt:
„Zerrieben zwischen antirevolutionärer und antikommunistischer Sozialdemokratie auf der einen Seite und der leninistischen Linken auf der anderen, ist es ihr seitdem historisch nur noch an wenigen Punkten der Geschichte gelungen, solch eine gesellschaftliche Größe und Wirkungsmächtigkeit zu entfalten, dass es ihr gelungen wäre, ihre Theorie und Analyse auf das historisch notwendige Niveau zu heben. Das heutige, immer noch, Zehren an den Debatten und Theoretiker*innen der kritischen Theorie und von 68ff., ist Ausdruck dessen. Der aktuell den Menschen subjektiv als eine Vielzahl von Krisen und Kriegen gegenübertretende eskalierende kapitalistische Konkurrenz gelingt es der antiautoritären Linken deshalb auch nur mit theoretischen Oberflächlichkeiten oder Sprachlosigkeit entgegenzutreten.“
Eine solche Darstellung stimmt nicht mit der aktuellen Forschung und linken Theoriebildung überein. Schon 1999 zeigten Luc Boltanski und Eve Chiapello in Der neue Geist des Kapitalismus, was im Folgenden diverse Theoretiker:innen (z.B.: Slavoj Žižek in „Sublime Object of Ideology“, Jodi Dean in „Democracy and other Neoliberal Fantasies“, Maurizio Lazzarato in „Kognitiver Kapitalismus“ uvm) feststellten: Der Kapitalismus wird ‚links‘.
Der fordistische Modus des Kapitalismus gerät aus diversen Gründen (die zum Beispiel Arrighi sehr gut darstellt) im Laufe der 1960er Jahre in die Krise. Diese Krise resultiert in Protesten, die eigentlich zwei Seiten haben, wie Boltanski und Chiapello zeigen: Auf der einen Seite demonstrieren Arbeiter:innen um mehr Gehalt (Boltanski und Chiapello sprechen hier von Sozialkritik), auf der anderen Seite steht eine lose Koalition aus Schüler:innen, Studierenden und Lehrlingen gegen die rigide, hierarchische Industriegesellschaft, die schon der kritischen Theorien übel aufgestoßen war, auf. Boltanski und Chiapello nennen diese zweite Seite des Protests, die wir heute vor allem vor Augen haben, wenn jemand „1968“ erwähnt, als Künstlerkritik: Diese forderte sexuelle Befreiung, Ausbau von Individualismus, Demokratie, Ausleben von Kreativität, authentisches Leben, usw – und stellte sich mit diesen Forderungen gegen die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, die letztlich zu Bastionen der Industriegesellschaft (ich vereinfache hier extrem) geworden waren. Dies war die Schlagmasse der antiautoritären Linken.
Im Laufe der 70er Jahre brach nun die alte Industriegesellschaft zusammen. Der Keynesianismus wurde begraben, es setzte sich der Neoliberalsmus durch. Dieser war, seines politischen Ursprungs gemäß, eigentlich extrem reaktionär – was die Politik von Thatcher und Reagan, die homophob, rassistisch, sexistisch und klassistisch war, zeigt. Aber, es entsteht zunehmend ein ökonomisches Regime, das den Kernforderungen der antiautoritären Linken entspricht: Die Fabrik als normierender Zentralort der Massengesellschaft verschwindet zumindest im Westen. Zunehmend werden Individualismus und Kreativität zu wichtigen Motoren der Wirtschaft – Menschen arbeiten in einer Wirtschaft des gelockerten Kündigungsschutzes von Projekt zu Projekt, Konsumwünsche werden in der Produktion berücksichtigt, Teams mit flachen Hierarchien, in denen jeder jede:n duzt, ersetzen die Kommandostrukturen des Fordismus, die Hippies von 1969 gründen 1979 Unternehmen und sind 1989 die neuen Chefs und Multimillionäre. Diese ökonomische Entwicklung resultiert in gesellschaftlichen Verwerfungen: Der reaktionäre Neoliberalismus einer Maggie Thatcher wird zum Auslaufmodell, es entstehen aus den Kreisen der neuen Gig- und Freihandelsökonomie Forderungen zu umfassenden Modernisierungen der Gesellschaften, die den neuen Ressourcen von Kreativität und Individualusmus zuträglich sind. So kommt es im Laufe der 1990er Jahre zur Entstehung der Formation eines ‚progressiven Neoliberalismus‘, für den etwa die Administrationen von William Clinton, Anthony Blair und Gehard Schröder stehen. Dieser setzt im Kulturellen und Gesellschaftlichen libertäre Öffnungen um, führt aber eine ökonomisch- und sozialpolitische, neoliberale Politik fort.
Es ist also falsch, anzunehmen, die antiautoritäre Linke sei gescheitert. Ganz im Gegenteil: Die letzten 50 Jahre sind eine einzigartige Erfolgsgeschichte dieses Projekts. Weltweit, selbst in den ehemaligen Ostblock-Diktaturen kam diese Formation an die Macht (selbst dort, wo sie nie an der Regierung war). Es ist die hegemoniale Ideologie unserer Tage.
Nun könnte jemand einwerfen: Das ist, was Sarah Wagenknecht auch sagt.
Tatsächlich kommen solche Beschreibungen manchmal von autoritären Linken, wenngleich oft runtergebrochen auf bloße Beleidigungen gegen die vermeintlichen Liberalen/Antideutschen/Verräter:innen, die doch in Wahrheit gegen das Volk/abgehoben/anti-proletarisch, usw. seien.
Das meine ich nicht. Mir geht es nicht darum, Forderungen, die oft einem anti-autoritären Kontext geschichtlich entsprungen sind (etwa die Gleichberechtigung von FLINTA*-Personen, die LGBTQIA*-Bewegung, die Klimabewegung, usw.) zu diffamieren. Sondern, ich will hier nur deutlich machen, dass die Position des linken Libertarianismus, der antiautoritären Linken, nicht etwa eine historisch verlorene ist, sondern im Gegenteil, unter Verlust des emanzipatorischen Gehalts, zur Struktur des gegenwärtigen Kapitalismus wurde. Das Kapital als revolutionäre Kraft verwirklicht, was hier auf dem Spiel stand, freilich unter Negation des Eigentlichen: der Befreiung des Menschen.
Dies ist aber die Voraussetzung für die zweite, und zentralere These, die ich hier vorbringen möchte: Es gibt keinen Gegensatz zwischen anti- und autoritärer Linken in der Gegenwart.
Das klingt harsch.
Was ich meine: Der progressiv-neoliberale Kapitalismus unserer Tage sieht sich mit multiplen Krisen konfrontiert, die seinen Bestand in Frage stellen. Diese Krisen (insbesondere die Klimakatastrophe) können nicht mehr eingehegt werden, es bedarf einer soziopolitischen Anpassung, um den Status quo zu bewahren, die im Wesentlichen autoritäre Züge annimmt. Zum Beispiel: Die Klimakatastrophe löst enorme Fluchtbewegungen aus, die die Frage nach Verteilung der Ressourcen aufwerfen, die den Bestand des Kapitalismus an sich gefährden. Es wird, um die Reproduktion des Kapitals zu sichern, darum notwendig, die Geflohenen von der Teilhabe an den Ressourcen auszuschließen, was Gewalt, Grenzregime, Aufhebung von Menschenrechten usw., also autoritäre Maßnahmen erfordert.
Diese Bewegung ins Autoritäre vollzieht sich nun aber eben auch gesellschaftlich, sie bringt neue Formen hervor, nämlich das, was ich „autoritärer Neoliberalismus“ nenne. Eine politische Formation, die im Namen der radikal-individualistischen Freiheit gegen den progressiven Neoliberalismus rebelliert und ihn ersetzt, ohne die Ideen von Freiheit, Authentizität, Individualismus, usw. aufzugeben. Stattdessen werden diese zu den Kernpunkten der neuen Autorität.
Was passiert ist also, dass sich in der anti-autoritären Hegemonie eine Spaltung vollzieht. Ein (immer größer werdender) Teil der Anhänger:innen dieser hegemonialen Ideologie nimmt autoritäre Positionen an und vereinigt sich mit anderen regressiven Grüppchen zu einem gesellschaftlichen Block, der diesen autoritären Umbau der Gesellschaft umsetzt. Dies konnte mensch während Corona beobachten: Die Coronaproteste waren weitestgehend, wie Nachtwey und Amlinger darstellen, von Angehörigen des Alternativmilieus, ehemaligen Grünen, Linken usw. bestritten. Diese enthüllen den autoritären Kern ihrer antiautoritären Forderungen.
Die autoritären Linken, die sich heute konstituieren, reagieren so vielleicht auch auf die bröckelnde Hegemonie der anti-autoritären. Indes, ihre Rebellion ist, wie ich in (1) zeigte an sich bereits eine radikal-individualistische, die darum zweitens in Wahrheit nicht anti-anti-autoritär ist. Der Gegensatz zwischen antiautoritär und autoritär besteht nämlich gar nicht, im gegenwärtigen Autoritarismus steckt ein anti-autoritärer Kern (der radikale Individualismus und die Sehnsucht nach Freiheit), im Anti-Autoritarismus enthalten ist immer schon der gegenwärtige Zug zum Autoritären. Die autoritäre Linke, mit der wir heute konfrontiert sind, ist darum nicht nur eine Fortführung von gewissen Traditionslinien, die im 20. Jahrhundert erfolgreich waren. Es handelt sich vielmehr auch und zugleich um eine Realisierung einer autoritären Tendenz, die dem geschichtlichen Triumph der anti-autoritären Linken immer schon eingeschrieben war.
3) Warum will das jemand – oder: Hegel did nothing wrong
Das führt uns aber zur Frage, worin denn dann die Spezifik der autoritären Linken der Gegenwart besteht. Bis jetzt erscheint sie nämlich, wenn ich Recht habe, nur als eine weitere Form der autoritären Tendenz des Neoliberalismus.
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich eine Frage stellen, die leider die Basisgruppe Antifa mMn ausblendet: Warum will jemand autoritäre:r Linke:r sein?
Machen wir uns erstmal klar, was jemand machen muss, um sich einer entsprechenden Gruppe anzuschließen: Es ist zunächst viel Konsum nötig. Schriften und Zeitungen wollen gekauft und gelesen werden. Aber das reicht nicht. Ein gewisser Kleidungsstil, ein gewisser Musikgeschmack (Ernst Busch und Disarstar idR) müssen im wahrsten Sinne erworben werden. Zweitens muss das eigene Leben dann getaktet sein: Gruppentreffen, Schulungstreffen, Diskussionsgruppen bestimmen den Alltag, Zeltlager, Wochenendcamps, rituelle Demonstrationen (1.Mai, Anti-Siko, LLL, usw.) Basisaktionen vor Fabriktoren, usw. Der Effekt all dieser Praxis- und Konsumformen ist der zunehmende Ausschluss von der gesellschaftlichen Realität: Das Individuum in diesen Gruppen lebt in einer spezifischen Subkultur, in der es aber alle Koordinatenpunkte kennt und beherrscht. Nicht nur ist es damit in der Kontrolle seiner eigenen, kleinen Welt, es kann von dieser sicheren Warte auch den Rest der Welt begreifen als jemand, der alles durchschaut hat.
Interessanterweise hat vor mehr als 200 Jahren diese Subjektposition kein Geringerer als Hegel beschrieben:
So gibt sich denn das Individuum, das als Künstler lebt, wohl Verhältnisse zu anderen, es lebt mit Freunden, Geliebten, usf. aber als Genie ist ihm dies Verhältnis zu seiner bestimmten Wirklichkeit (…) zugleich ein nichtiges und es verhält sich ironisch dagegen. (Hegel, Ästhetik I, S. 94-95.)
Hegel schreibt an dieser Stelle eigentlich über romantische Ironie. Ohne zu tief in diese Materie einzudringen, geht Hegel davon aus, dass sich mit der deutschen Romantik ein regressiver Trend etabliert hat. Dieser besteht seiner Meinung nach kurz gesagt darin, dass die Romantiker:innen zwar ihre Welt ästhetisiert sehen wollen, aber nur und ausschließlich für sich. Es geht ihnen nicht um gesellschaftliche Veränderungen, sondern darum, diese Veränderung für sich jetzt, unmittelbar zu realisieren, zu erleben. Darum schließen sie sich (Hegels Beschreibung) von der Gesellschaft ab, gründen kleine Kreise, in denen sie mit einer eigenen Sprache, eigenen Ausdrucksformen, eigenen Ästhetiken dieses Versprechen für sich realisieren und sich so zugleich über den Rest der falschen und verachtenswerten Welt hinwegsetzen. Sie haben Recht und genießen den schönen Moment des Recht-Habens, ohne jeden Anspruch auf Realisierbarkeit.
Ob nun Hegel, der eine heftige Abneigung gegen die deutsche Romantik hatte, damit kunstgeschichtlich recht hat, ist eine Frage für Philosophen (und eine heftig umstrittene noch dazu). In Bezug auf die autoritären Linken hat Hegel aber auf jeden Fall den Nagel auf den Kopf getroffen: Das Angebot, das die autoritäre Linke unterbreiten kann, ist eben genau das: romantische Ironie. Das Wissen, Recht zu haben, gegen die absurden Zumutungen der Wirklichkeit. Einen festen Kreis anderer Ironiker:innen zu besitzen, in dem mensch weiß, was Sache ist.
Genau deswegen ist es für die autoritäre Linke so wichtig, politische Ziele zu verfolgen, die unrealisierbar sind, mit Methoden, die jenseits jeder Wirksamkeit liegen.
Das aktuellste Beispiel dafür und damit für die autoritär-linke Ironie ist die Fixierung auf Gaza.
Natürlich, hier spielt auch der Antisemitismus dieser Kreise eine entscheidende Rolle. Doch ignorieren wir diesen (was natürlich niemals in der Praxis geschehen darf) für einen Moment. Was sehen wir dann? Hunderttausende autoritärer Linker demonstrieren in der westlichen Welt gegen Israel – wohlwissend, dass der Krieg nicht in den Hörsälen Berlins, New Yorks oder Madrids entschieden wird. Sie besetzen Straßen und Unis – Mittel, die zwar jüdische Studierende spüren, nämlich dann, wenn sie verprügelt, angegriffen, beleidigt und vom Campus gejagt werden, aber die israelische Regierung in der Praxis nicht einmal peripher tangieren dürfte. Das ganze Unterfangen, selbst die Forderungen, die sie erheben, entbehren jeder Durchsetzbarkeit, jedes Realitätsbezugs, jeder Möglichkeit, auch nur irgendwie umgesetzt zu werden. Dennoch verfolgen sie diese Politik mit enthusiastischem, religiösem Eifer weiter. Ja: Die autoritären Linken gehen so weit, und torpedieren mit diesem Fokus auf Gaza realistische politische Projekte: Sei es in Form der Untätigkeit gegen die rechte Wende in der Welt, sei es, dass sie realistischere politische Aktionen (etwa Demos gegen die AfD) mit ihrem Palästina-Fetisch vereinnahmen, sei es, dass sie aktiv zum Beispiel gegen Labour in der jüngsten UK-Wahl stimmten.
In diesem Fokus/Fetisch zeigt sich damit ein Nicht-Wille zum Sieg. Eine radikale Abspaltung von der Realität. Es geht hier nicht mehr darum, etwas zu erreichen (übrigens, kein:e Palästinenser:in profitiert im Geringsten von Protestcamps privilegierter Studierenden der postcolonial theory), sondern ums Wissen, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Die schöne Niederlage, oder eben: der „zernichtbare Schein“ (Hegel) der romantischen Ironie ist wichtiger (und fürs Subjekt befriedigender) denn die reale Veränderung der Verhältnisse. Die meist langweiliger, kleinteiliger und komplizierter ist.
Darin liegt also das Angebot, das Verführungspotential, gerade, so meine ich, für jene, die neu links werden: Die Kontrollierbarkeit der Welt, die Überhöhung des eigenen Ich, die romantische Spielerei mit identitären Formen und Ästhetiken.
4) Was tun?
Das führt mich aber zu meinem letzten Kritikpunkt an der Basisgruppe Antifa, der womöglich nicht so wohlwollend aufgenommen werden wird.
Im Schlusskapitel ihres Textes formuliert die Basisgruppe Antifa eine Art politisches Programm, an dem vieles sehr richtig ist. Sie schreiben davon, die „abstrakten Heilsversprechen“ der autoritären Linken abzulehnen, diese politisch zu bekämpfen und erklären:
„Als antiautoritäre Linke haben wir dagegen etwas materiell Nützliches zu den Kämpfen beizutragen. An die Stelle von Massenorganisationen, Schulungen und Parteiaufbau setzen wir Ideologiekritik und Selbstorganisation, Selbst- und Gesellschaftsveränderung als ein sich bedingendes, praktisches Verhältnis.“
Genau hier, finde ich, muss leider Selbstkritik betrieben werden. Denn die Tendenzen der autoritär-linken Ironie finden sich nun einmal genauso in den Zirkeln der „Selbstorganisation“ der anti-autoritären Linken wieder.
Es ist schmerzhaft darüber zu sprechen, und wird vielleicht ungern gesehen, doch entspricht es nun einmal der Realität: Auch die anti-autoritären Linken sondern sich (mit Ausnahmen, dazu gleich) von der Welt ab, auch die anti-autoritäre Linke betreibt romantische Ironie, die sich nicht substantiell von der autoritären unterscheidet.
Schmerzhaft ist dies womöglich darum, da sich viele anti-autoritäre Kreise wenig Rechenschaft darüber ablegen, dass hier feste Codes, Sprachordnungen und ein Habitus herrschen, der sie zwar anders aber genauso uniform macht, wie die autoritären Konterparts. Sie bilden kleine Zirkeln und Gruppen, in denen Sprachordnungen, Kleidungsvorschriften usw. herrschen, nicht anders als bei den Autoritären. Wo jene vielleicht Ernst Busch abfeiern, hören diese vielleicht, je nach Konfession, Sookee, das Flug oder, oder, oder. Selbstorganisation, ein autonomes Projekt, das seit den 1990ern eigentlich fehlgeschlagen, und wie ich oben gezeigt habe, in die Struktur des Kapitalismus selbst eingegangen ist, bedeutet häufig Grüppchenbildung, die gewisse Sozialformen, gewisse Formen des Auftretens, usw. von vornherein ausschließen. An die Stelle der autoritären Sekte tritt so das post-autonome Grüppchen, in der jede:r vegan, die meisten polyamourös, usw sind (ich entschuldige mich für die polemische Überzeichnung). Wenn die Autoritären die Welt dank Lenin/Trotzki/Hoxha/Gonzalo/… durchschauen, sinds bei den Anti-Autoritären halt Ideologiekritik, Adorno, usw. (Dass, nebenbei, auf beiden Seiten das Verständnis dieser Theoretiker:innen häufig eher schlecht ausgeprägt ist, sei nur nebenbei gesagt). Hüben wie drüben haben wir also Praxisformen der romantischen Ironie, der Überhöhung des Ichs durch eine linke Gruppe.
Anti-autoritäre Gruppen hoffen nun, wie es ja auch die Basisgruppe Antifa schreibt, tatsächlich die gesellschaftliche Realität anzugreifen und zu verändern. Im Habitus, in den Codes usw ist der Wunsch nach der Befreiung enthalten, nach wahrhaftem anti-autoritärem Aufbegehren. Dies scheint sie von den autoritären Linken zu unterscheiden – doch wie ich nun gezeigt habe, trügt dieser Schein. In den Sozialformen der antiautoritären Rebellion, in der Subkulturbildung, der Überhöhung des Ichs in Individualismus und romantischer Ironie, kehrt nur die Autorität der gesellschaftlichen Realität wieder. Es manifestiert sich hier der neoliberale Kapitalismus, der in seiner jetzigen Form eben in der Individuation, in den anti-autoritären Begehren besteht.
Der Widerspruch zwischen autoritärer Linken und der anti-autoritären ist darum keiner. Oder besser gesagt: Es treffen hier jene zwei Flügel des Neoliberalismus, zwei gesellschaftliche Bewegungstendenzen, aufeinander, die die Welt allgemein prägen: Die autoritären Linken (und darin liegt ihre aktuelle Attraktivität) stehen für die aufsteigende Tendenz des autoritären Neoliberalismus, der gegen den progressiven Neoliberalismus rebelliert, für den die anti-autoritären Linken stehen. Dieser steht unter Druck, weswegen auch die Sozialformen und Ästhetiken der anti-autoritären Linken im Rücklauf begriffen ist. Zwar mögen hier Kämpfe geführt werden (zum Beispiel gegen Abschiebungen, gegen Antisemitismus, oder für die Rechte trans-identer Menschen) die zeitgemäßer sind. Dennoch verbleibt die antiautoritäre Linke im Aus, da sie eben nicht gesellschaftlich anschlussfähig und wirkmächtig sein will. Auch hier ist die reine, schöne Seele der romantischen Ironie befriedigender, als wirklich einzugreifen, zu verändern.
Jedoch, auch die autoritäre Seite bleibt, ganz bewusst, wie gesehen, ohne Wirkung. Ja, die Linke im Ganzen ist bar jeder gesellschaftlichen Zugkraft und Attraktivität, eben da sie nichts anderes, nichts neues anbietet. Es handelt sich bei der Linken nicht um eine politische Bewegung für eine emanzipatorische Alternative, wie sie es einst war, sondern nur mehr um eine nerdige Spezialform der Auseinandersetzung von progressivem und autoritären Neoliberalismus, für das sich nur wenig begeistern können. Selbst wenn Linke anderes sagen und anders denken mögen, in Wahrheit wird hier nichts anderes realisiert, keine Alternative eröffnet, sondern das Bestehende nur alternativ zum Ausdruck gebracht. Die Linke befindet sich so beinahe weltweit in einer Einbahnstraße, zerrieben zwischen autoritärer und antiautoritärer, romantischer Ironie.
Doch es gibt auch andere Tendenzen.
Die Covid-19-Pandemie hat dies gezeigt: Während der Pandemie gab es reale Formen kollektiver Solidarität, die Individuum und Kollektiv nicht als Gegensatz betrachteten, sondern ineinander aufhoben: Manifeste wie #staythefuckhome adressierten Individuen, durch ihre individuelle Handlungsweise (daheim zu bleiben) das Kollektiv der Menschheit zu schützen. Menschen halfen sich gegenseitig, musizierten füreinander, kauften füreinander ein, leisteten solidarische care-Arbeit, isolierten sich, kurz: zeigten in ihrem individuellen Verhalten kollektive Verantwortung und Solidarität.
Diese Form gelebter kollektiver Solidarität sollte ein Anknüpfungspunkt einer neuen linken Praxis sein, die jene Unterscheidung zwischen autoritär und antiautoritär, die dem 20. Jahrhundert angehört, überwindet. Eine neue Linke kann hier, bei den materiellen Bedürfnissen der Menschen (und nicht abstrakter Selbstorganisation) ansetzen, und sie zu Orten des Klassenkampfes machen.
Beispiele finden sich dazu zu Hauf: Genoss:innen in Berlin organisieren jeden Samstag Brunches in Plattenbauten. Hier stellen sie Essen und Gesellschaft – beides fehlt den armen und vereinsamten Bewohner:innen – zur Verfügung, und können dabei politisieren: Mir wurde erzählt, wie sie zum Beispiel einen homo- und transphoben Menschen durch Kontakt im Rahmen dieser Brunches dazu bringen konnten, diese Ansichten abzulegen. Die KPÖ, von der ich annehme, dass sie der Basisgruppe Antifa nicht gefallen wird, schaffte es in ganz Österreich, Hilfsnetzwerke für Armutsbetroffene aufzubauen und dabei zugleich Armut und Wohnungsnot zu thematisieren, so dass die Partei in der notorisch reaktionären Provinz Österreichs den Rechtstrend effektiv stoppen konnte. Drittens schaffte es die Kampagne zero-Covid, die ich selbst eine Zeit lang als Sprecher begleiten durfte, indem die zentralen, materiellen Forderungen der Menschen (zum Beispiel nach Weiterzahlung von Löhnen, Ende der Fabrikarbeit, gute Unterbringung während Lockdowns) progressiv aufgegriffen und mit Klassenkampf (zum Beispiel in Form der Forderung nach Beschneidung der Profite von Aldi und Co) verbunden wurde, zumindest einige Monate, die Binarität zwischen Querdenken hier und Staatstreue dort aufzubrechen. Heftig bekämpft von der autoritären (dass ein paar Splittergruppen die Bewegung unterstützten lag eher an deren Vergötterung Chinas, als an echter Begeisterung,) wie der anti-autoritären Linken schaffte es die Bewegung, wenn sie schon nicht an die Praktiken der kollektiven Solidarität anknüpfen konnte, diese dennoch politisch zu formulieren.
Diese drei Beispiele sind inkohärent, sicherlich: Es handelt sich einmal um eine stark lokalisierte Aktion, dann um die Strategie einer Partei, und drittens um eine Graswurzelbewegung die zu einem gewissen Themenkomplex in einer spezifischen Situation entstand. Immer aber geht es, meiner Ansicht nach, um dasselbe in diesen Beispielen: Die Isolierung der romantischen Ironie wird durchbrochen, indem die materiellen Bedürfnisse der Menschen ernstgenommen, solidarisch organisiert und damit politisiert werden. Nicht nur wird Solidarität erfahrbar gemacht, sondern es zeigt sich in diesen Praxisformen für diejenigen, die an ihnen teilhaben, dass die Welt solidarisch gestaltbar ist. Jenseits der Freiheit des Individuums, die die Grundlage der neoliberalen Gesellschaft, der neuen autoritären Linken wie der alten anti-autoritären darstellt, wird die Freiheit erfahren, gesellschaftliches Leben im Kollektiv solidarisch gestalten zu können. Der kapitalistisch-realistischen Monotonie des „sei Du selbst“ wird so etwas anderes, neues entgegengesetzt, eine Freiheit und Solidarität, die nicht eingehegt werden können.
Meiner Meinung nach muss die Linke im 21. Jahrhundert, das ein Jahrhundert des autoritären Neoliberalismus zu werden droht, genau an diese materiellen Praxisformen anschließen. Wir müssen die Versuchungen der romantischen Ironie ablegen und zu einer Kraft im Leben der Menschen werden. Dies wird anstrengend sein, eine Politik der kleinen Schritte, eine Politik der Widersprüche (denn die ‚Masse‘ ist nicht progressiv und keine emanzipatorische Kraft per se) und Rückschläge. Und: Es wird bedeuten aus der Sicherheit von festgefahrenem Habitus und klaren Codes herauszutreten. Das Potential auf Befreiung findet sich nicht nur im studentischen AZ, sondern in den Mietskasernen, den Fußballplätzen, den Asylheimen, den Vereinen, den Tafeln, den Freiwiligen Feuerwehren, usw. Kurz, im realen, materiellen Leben, in den Lebenspraktiken und materiellen Bedürfnissen von Menschen, die derzeit vielleicht nicht links sind, die aber, eben aufgrund ihrer gelebten Realität, Teil eines linken Projektes werden können. Ein Projekt, das sich nicht auf schöne Demos, Kampagnen und Wahlsiege beschränken darf, sondern einen radikalen Umbau der Gesellschaft leistet – durch die Transformation des Lebens der Menschen, ihrer gesellschaftlichen Realität und durch politische Intervention, die freilich eine Machtoption benötigen wird.
Dieser Weg ist schmerzhaft. Wir stehen an seinem Anfang – wenn überhaupt. Nur wenige und nur vereinzelte Gruppen und Organisationen versuchen sicher, noch mangelt es, meistenteils an theoretischem und praktischem Wissen. Noch lebt in der Linken insgesamt die romantische Ironie fort, noch stecken wir in den Auseinandersetzungen eines vergangenen Jahrhunderts fest. Noch geben wir uns (und da schließe ich mich mit ein) keine Rechenschaft darüber, wie sehr in unseren Formen, in unserer Praxis, in Habitus, Codes, Ideologie, unbewusst die gesellschaftliche Realität autoritativ realisiert. Dennoch: Dieser Schritt in die gesellschaftliche Realität, dieser neue Versuch einer politischen Linken als transformative Kraft im und des Lebens der Menschen erscheint mir in einer Zeit, in der alle für die radikale Freiheit des Individuums sind, und autoritäre Versuchungen auf jeder Seite der Barrikade lauern, der einzig gangbare Weg. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir solche Praxisformen umsetzen können, wie wir sie, angesichts der ganz realen Bedrohungslage, zu politischen Machtoptionen umwandeln können, und wie wir so mit unsere romantischen Ader brechen können.